Naturstein und Klimawandel: wie das Leben die Steinwüste vor einem Gletscher besiedelt

Der Dammagletscher am Ostabhang des Winterbergmassivs in den Urner Alpen ist ein ideales Freiluftlabor, um die Entstehung neuer Ökosysteme zu erforschen. Foto: Beat Stierli (WSL)

Ziehen Gletscher sich zurück, geben sie Steinwüsten aus Sand und Kieseln frei. Doch bereits nach kurzer Zeit beginnen Mikroorganismen damit, die auf den ersten Blick lebensfeindlichen Landschaften wieder zu besiedeln. Dazu zählen Arten, die die Steine chemisch anknabbern und so Minerale als Nährstoffe gewinnen.

Erstmals gelang es dem Wissenschaftlerteam um Beat Frey, Bodenökologe an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) mit Sitz in Birmensdorf, Schweiz, das gesamte Artenspektrum an Mikroorganismen im feingemahlenem Sand und Geröll eines Gletschervorfelds zu analysieren. Das ermöglichte ihnen einen Einblick in die frühe Bodenentwicklung und die Entstehung neuer Lebensgemeinschaften.

Seit 2007 beobachtet das Forscherteam das Vorfeld des Dammagletschers in den Urner Alpen.

Keine Pflanze hat Chancen, hier Wurzeln zu schlagen und längerfristig zu überleben. Denn Kohlenstoff und Stickstoff, lebensnotwendige Baustoffe für das Pflanzenwachstum, fehlen fast vollständig.

Jedoch trotzen die zwischen 1000 und 1300 Arten von Mikroorganismen, die die Forscher fanden, der kargen Umgebung: allmählich überziehen sie die Steinwüste mit einem grünen Rasen und reichern dabei den Sand mit Nährstoffen an, so dass langsam Humus entsteht.

Cyanobakterien und Grünalgen zum Beispiel setzen sich direkt auf die kahlen Steine oder den Sand und holen sich den benötigten Kohlen- und Stickstoff aus der Luft und dem geschmolzenen Gletschereis. Mittels Photosynthese produzieren sie daraus organisches Material, das sie in ihrem Körper einbauen. Sterben sie, wandeln sich ihre Überreste in organische Bodenbestandteile um; allmählich beginnt eine feine Humusschicht, das Gletschervorfeld zu überziehen.

Sobald solch erste dünne Schicht Boden vorhanden ist, siedeln sich weitere so genannte heterotrophe Mikroorganismen an. Diese Arten nutzen den im Boden gespeicherten Kohlen- und Stickstoff als Nahrungs- und Energiequelle. Weitere Nährstoffe besorgen sie sich, indem sie sich an die Steinbrocken anheften, dort scheiden kleine Mengen an Säuren ausscheiden und damit das Gestein langsam auflösen.

Die freiwerdenden Mineralstoffe wie Eisen, Phosphor oder Zink werden verspeist. Das, was bei der Mahlzeit übrig bliebt, trägt zur Fruchtbarkeit des Bodens bei.

Die gefundenen Mikroorganismen sind erstaunliche Lebewesen. Sie stören sich auch nicht an den starken Temperaturschwankungen von bis zu 40° Celsius an der Oberfläche. Trockenperioden überstehen sie mithilfe klebriger Fäden, die Wasser zurückhalten können.

Sogar von der nahezu schattenlosen Umgebung wissen sie zu profitieren: weil sie resistent sind gegen die hohe UV-Strahlung in den Bergen, können sie das reichlich vorhandene Licht für ihre Photosynthese nutzen.

Von diesem Punkt an steht der Besiedlung auch durch höhere Pflanzen nichts mehr im Weg. Blickt man vom Gletschervorfeld hinunter in Richtung Tal, zeigen sich zuerst Moose und Flechten, dann Kräuter und Sträucher und nach über 100 Jahren auch ausgewachsene Bäume auf dem ehemals vereisten Terrain.

(08.07.2015)