Professor Jan Pieper von der RWTH Aachen legt eine neue Erklärung zu den regelmäßigen Löchern in den alten Steinwänden vor
Die großen Tempel und Palastanlagen der Maya sahen ehemals ganz anders aus, als wir sie uns heute vorstellen: „Rund um den monumentalen und steinernen Kern trugen sie im unteren Geschoss Verkleidungen mit Vorhängen, die sich im Wind hin und her bewegten“, so Jan Pieper, emeritierter Professor für Baugeschichte an der RWTH Aachen bei einem Vortrag in Berlin und in einem bei Academia.edu veröffentlichten Forschungsbericht. Anschaulich benutzt Pieper den Begriff von „Verhüllungen der Gebäude“. Die Stoffbahnen könnten verschiedene Funktionen gehabt haben.
Die Maya-Völker siedelten von etwa 3000 v. Chr. bis um 900 n. Chr. in Mittelamerika. Besonders von der Halbinsel Yucatán im heutigen Mexiko sind sowohl Paläste als auch Tempel bekannt, die allesamt auf kleinen Erhebungen liegen. Markantes Kennzeichen sind die breiten Treppen, die zu den Bauten hochführen.
Solche Gebäude hatten nur wenige Geschosse und keine Fenster, so dass die nur sehr kleinen Innenräume dunkel, kalt und feucht gewesen sein dürften. Lange schon haben die Experten gerätselt, ob überhaupt Menschen in diesen Räumen lebten.
So weit der Wissenstand, den wir aus den Jahren um 1920 und 1930 kennen. Damals gab es in der Jugendstil-Architektur die Mode des „Maya Revival“. Ein berühmtes Beispiel ist das Ennis House von Frank Lloyd Wright in Los Angeles. Damals wurden auch die heute weit verbreiteten Rekonstuktionszeichnungen der Paläste und Tempel angefertigt.
Pieper hat in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekt nun eine Merkwürdigkeit der Bauten aus der Maya-Welt genau unter die Lupe genommen: sie tragen am Übergang vom unteren zum 1. Geschoss – sprich: unter dem Kranzgesims – kleine, rechteckige Löcher, dies über die ganze Gebäudebreite und in ganz regelmäßiger Anordnung.
Sie wurden ehemals als Ventilation verstanden, reichen sie doch durch die meist 1 m dicken Wände hindurch.
Bei genauerer Betrachtung stellt man in den Löchern jedoch Mörtelreste fest, und in diesen lassen sich häufig Abdrücke von Baumrinde finden.
Pieper und sein Team aus Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen haben nun eine Erklärung dafür entwickelt: in die Löcher waren Balken eingesteckt und diese dienten dazu, rund ums Gebäude Vorhänge anzubringen.
Erste Hinweise auf solche Verhüllungen fanden die Forscher auf Vasenmalereien der Maya. Dort werden gelegentlich am oberen Rand des abgebildeten Raumes Stoffbahnen gezeigt, die wie Segel gerefft sind.
Herabhängend sind sie nicht dargestellt – kein Wunder, wollten die Künstler doch nicht Stoffbahnen von außen zeigen, sondern Szenen aus dem Leben der Maya dahinter.
Auch erwähnt der Spanier Bernal Diaz del Castillo 1568 in seiner Historia Verdadera de la Conquista de la Nueva España, dass es im Inneren der Maya-Paläste Vorhänge mit teuren Tuchen gab.
Schließlich ist eine Szene überliefert, wo ein Maya-Kazike (Häuptling) mit spanischen Conquistadores Verhandlungen führt und dabei hinter einem Vorhang sitzt.
Das Forscherteam hat nun aus vielen Details vor Ort weitere Rückschlüsse gewonnen. Etwa wie die Balken in die Mauern eingesetzt waren: zunächst wurde das Loch mit Mörtel verfüllt, dann wurde der grob abgebeilte Balken eingeschoben und danach wurde der Mörtel festgestampft. Daher die Abdrücke der Rinde.
Bemerkenswert auch der Abstand der Wandlöcher: er beträgt circa 67 cm – das war die maximale Breite der damaligen Webstühle.
Zu der Theorie passt auch, dass Maya-Bauten im unteren Geschoss im Regelfall keine Verzierungen tragen.
Geeignete Bäume gab es im Maya-Reich genügend: im tropischen Regenwald hat ein Baum keine Äste, sondern nur eine Krone, mit der er in die Höhe wächst; es bestand also kein Mangel an geraden und langen, dünnen Stämmen.
Sie trugen die Vorhänge, die, so Pieper, vermutlich aus wertvollem Stoff gefertigt waren. Wie bei einer modernen Veranda konnten sie bis nach vorne gezogen beziehungsweise zum Boden herabgelassen werden.
Über 3 m und mehr reichten sie und schufen damit einen zusätzlichen Raum vor dem Gebäude. „Er konnte 9 Monate genutzt werden“, sagt Pieper. Er war hell und hatte einen angenehmen Luftzug. Durch die Vorhänge waren die Bewohner vor unliebsamen Blicken geschützt
Und für die restlichen 3 Monate des Jahres waren sie auch gut beraten, die Vorhänge abzunehmen. Denn dann ist dort Hurrikan-Saison. Einige wenige Berichte der alten Seefahrer erwähnen diese Wetterlagen.
Daneben gab es auch einfachere Konstruktionen für die Anbringung der Vorhänge: dann waren Ösen in die Mauersteine eingearbeitet, an denen die Tuchbahnen direkt befestigt werden konnten. In solchen Fällen gab es vor dem Bauwerk eine Reihe von Holzpfosten, bis zu denen die ausgezogenen Vorhänge dann reichten.
Pieper resümiert: „Die Maya-Architektur hat nicht nur eine steinerne, sondern auch eine textile Seite.“ Beide standen in starkem Kontrast: massiv und tot gegenüber luftig-leicht und bewegt.
Im Verlauf der Maya-Zeit hat sich diese Gestaltung verändert, vermutet Pieper: waren ursprünglich die Stoffbahnen um die Wohnungen der normalen Leute aufgespannt, wechselten sie später in die Tempelbereiche. Dort dienten sie vermutlich dazu, die Zeremonien vor den Augen der Normalbürger zu verbergen.
Eine ähnliche Entwicklung gab es im antiken Tempelbau in Europa, wenn auch in umgekehrter Richtung: „Die Säulen waren zunächst Teil der religiösen Bauten, und wanderten später als Zierstücke in die Alltagsarchitektur.“
Mit seiner Theorie schlachtet Pieper eine heilige Kuh der Historiker: ähnlich wie man inzwischen weiß, dass die Marmorbauten der Antike nicht steinsichtg sondern mit Farbe angemalt waren, ist jetzt auch bei den Bauten der Maya der Stein nur noch ein Teil des Ganzen.
Die Architektur in Kombination von Stein und Textil kennt man übrigens noch heute aus vielen heißen Landstrichen.
Forschungsbericht „Die Velatur im Steinbau der Maya. Textile Leichtbauten an Terrassen- und Kammerpalästen der klassischen Zeit“. Kostenloser Download auf deutsch und spanisch von Academia.edu nach Anmeldung.
(15.12.2019)