Ausstellung bis 31. Januar 2021 im Museum Ulm zu den weiterhin rätselhaften Steinscheiben aus dem Blautal

Zierscheibe mit V-förmigen Ritzstreifen, ca. 3900 v. Chr. Quelle: Museum Ulm / Wolfgang Adler, Stadtarchiv Ulm

Im Tal der Blau bei Ehrenstein nahe Ulm waren schon 1952 in den Resten eines 6000 Jahre alten Dorfes Kalksteinrundlinge mit einer doppelten Durchlochung gefunden worden

Seit 2011 gehören sie zum UNESCO-Welterbe „Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen“, die Ruinen eines 6000 Jahre alten Dorfes aus der Jungsteinzeit im Tal der Blau bei Ehrenstein nahe Ulm. Durch die Lage im feuchten Talgrund blieben die Reste der Holzhäuser hervorragend erhalten. Bei Ausgrabungen 1952 und 1960 wurden 15 Gebäude in Teilen freigelegt. Vermutlich war das erste Dorf im Jahr 3955 v.Chr. erbaut worden – nach mehreren Bränden und Wiederaufbauten wurde es jedoch knapp 100 Jahre später bereits wieder verlassen.

Unter den zahlreichen geborgenen Gegenständen aus Stein, Knochen, Geweih und Keramik fällt eine Fundgruppe besonders auf: flache, annähernd runde Scheiben verschiedenster Größen aus Kalkstein mit einer doppelten Durchlochung in der Mitte.

Steinscheiben aus der Grabung 1960. Durchmesser max. 69 cm. Foto: Landesmuseum Württemberg / H. Zwietasch

Auf einer Seite sind sie randlich mit geradlinigen oder zu Dreiecken angeordneten strahlenförmigen Mustern verziert. Diese waren ursprünglich mit einer schwarzen Paste ausgefüllt, so dass die Muster deutlich zur Geltung kamen. Neben fertigen Exemplaren, oft mit Gebrauchsspuren, liegen jede Menge Rohlinge und unvollendete Stücke vor. Offenbar wurden diese Scheiben nur in diesem Dorf hergestellt und benutzt.

Sie stellen die archäologische Forschung bis heute vor ein Rätsel: Die Ausstellung zeigt einen repräsentativen Querschnitt der rund 200 Scheiben und geht – auch mit Hilfe der experimentellen Archäologie – der spannenden Frage nach ihrer Deutung und Verwendung nach.

Schon 1952 waren die Scheiben als eigenartige Fundgruppe beschrieben worden, von „grotesken Riesenknöpfen“ war die Rede. Dass es jedoch keine Knöpfe gewesen sein können, wurde schon bald deutlich, als größere, schwere Exemplare bzw. Bruchstücke entdeckt worden waren. Damals wurden insgesamt 25 Scheiben geborgen, weitere 169 kamen bei der Ausgrabung 1960 dazu. Sie stammen aus allen Bauperioden des Dorfes.

Fertige Exemplare, komplett oder als Fragmente, mit und ohne erkennbare Gebrauchsspuren, sowieunfertige Scheiben lagen sowohl in den Häusern als auch in den Gassen und im Bereich der Dorfstraße. Rätselhaft ist der hohe Anteil unvollendeter Exemplare: geschliffene Rohlinge wie auch Scheiben mit nicht zu Ende geführten Bohrungen.

Zierscheibe 3900 v. Chr. Quelle: Museum Ulm / Photo: Wolfgang Adler, Stadtarchiv Ulm

Aus der Fundverteilung kann man folgern, dass es keine zentrale Werkstätte zur Herstellung dieser Scheiben gab. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass die wenig spezifische Verteilung der Scheiben zum Teil durch die Planierarbeiten im Siedlungsbereich bedingt ist. Auffällig ist auch die unterschiedliche Qualität der Scheiben, scheinbar wenig gelungenen Exemplaren stehen qualitativ sehr hochwertige gegenüber. Und bemerkenswert ist schließlich ihre Menge. Rechnet man die Zahl der vorliegenden Scheiben in allen Herstellungsstadien auf die gesamte, durch Bohrungen ermittelte Siedlungsfläche hoch, ergibt sich die erstaunliche Zahl von deutlich über 1000.

Weitere Aufschlüsse über die Anfertigung wie den Gebrauch der Kalkscheiben liefern die Herstellungs und Abnutzungsspuren, die oft schon mit bloßem Auge, noch besser aber unter dem Mikroskop zu erkennen sind. Dunkle Farbspuren in den Strichverzierungen entpuppten sich überraschend als Reste schwärzlich/ anthrazitfarbiger Einlagen, mit denen ursprünglich die eingeritzte Verzierung bei wohl den meisten Scheiben ausgefüllt war.

Experimentell konnte nachvollzogen werden, dass man zum Ausfüllen der Verzierungen sehr feines Birkenpech benutzen konnte. Interessant ist im Hinblick auf die zahllosen unfertigen Scheiben der Zeitaufwand für ihre Herstellung. Im Experiment waren für eine Scheibe mittlerer Größe vom Zuschlagen der Kalkplatte bis hin zur Fertigstellung der Verzierung etwa vier Arbeitsstunden nötig.

Die Oberflächen großformatiger Scheiben sind oft auf Vorder- wie Rückseiten poliert. Ein solcher Glanz entsteht bei längerem Kontakt mit Stoff oder Leder und ist ein klarer Hinweis auf ihre Verwendung in Verbindung mit Kleidung. Schwer zu erklären sind einige Widersprüche: einerseits der hohe Anteil halbfertiger Exemplare ohne sichtbare Mängel, auf der anderen Seite die Weiterverwendung beschädigter Exemplare.

Grabung 1960. Foto: Landesamt für Denkmalpflege im RP Stuttgart.

Auffallend sind auch die großen Qualitätsunterschiede sowohl in der Formgebung als auch in der Ausführung der Randzier. Sorgfältig ausgeführten Zierzonen steht unbeholfen wirkende Strichzier gegenüber. In jedem Fall gewinnt man den Eindruck, dass viele Mitglieder der Dorfgemeinschaft mit der Herstellung und dem Gebrauch solcher Objekte befasst waren. Form und Verzierung legen eine symbolische Bedeutung nahe, doch in welchem Zusammenhang diese mit der vermuteten Verwendung steht, ist unklar.

Rätselhaft ist schließlich, dass die Steinscheiben als spezifische Form offenbar auf das Dorf bei Ehrenstein beschränkt blieben. Auch wenn im Spektrum der Keramik Einflüsse aus dem Neckarraum erkennbar sind und Perlenschmuck Verbindungen nach Süden zu Federsee und Bodensee anzeigt: das nahezu komplette Fehlen solcher Scheiben in zeitlich und kulturell vergleichbaren Siedlungen andernorts spricht für eine relativ isolierte Dorfgemeinschaft im Tal der Blau, wo zu Beginn des 4. Jahrtausends v. Chr. für wenige Jahrzehnte solche Steinscheiben hergestellt und benutzt wurden. Als diese Siedlung jedoch aufgegeben wurde, scheint die lokale Tradition abzubrechen.

Die Ausstellung wird durch eine Publikation begleitet: „Schwarz auf Weiß“,mit Beiträgen von Fabian Haack, Sabine Hagmann, Wulf Hein, Helmut Schlichtherle, Kurt Wehrberger & Johannes Wiedmann, 80 S., zahlreiche Abbildungen, 14, 80 €

Quelle: Museum Ulm

(03.10.2020)