Die irische Künstlerin stellt Momente der Vergangenheit wieder her und gibt damit eine Vorstellung davon, wie wir die Welt verändern
Es sind Suchbilder, gleichermaßen faszinierend für Kinder wie für Erwachsene. Die irische Bildhauerin Michelle Byrne überträgt Stadtpläne, Karten nach Luftbildern oder Höhenlinien auf große Steine. Unweigerlich suchen dann die Betrachter der massiven Brocken nach Strukturen, die sie kennen, etwa Wegen, Kreuzungen, Plätzen oder Feldern, und finden offenbar großen Genuss daran, die Welt einmal ganz anders zu sehen und das Bild von ihr neu zusammenzusetzen.
Ein solches Kartenwerk von Michelle Byrne ist der „Derdimus Tower“ am Rand der Stadt Kilkenny platziert, die bekannt ist für ihren dunklen Kalkstein (Blue Limestone). Es handelt sich um eine 4 m hohe Säule, die sich von unten nach oben von 65 cm Durchmesser auf 45 cm verjüngt.
Eingraviert ist der Stadtplan von 1830, damals erstellt von Landvermessern und heute noch in den Straßenzügen wiederzuerkennen. Finanziert wurde das Werk im Rahmen von Kunst am Bau.
Solch eine zweidimensionale Struktur auf einen rundlichen Körper zu übertragen, verlangt viel Know-how. Geben wir die Schritte im Schnelldurchlauf wieder: zunächst wird die Oberfläche des Steins poliert, dann wird er mit einem Abdeckgummi überzogen, auf den wird der Stadtplan aufgemalt, dann werden die Felder zwischen den Straßen ausgeschnitten und mit Sandstrahl auf eine Tiefe von 5 bis 10 mm herausgefräst, schließlich kommt die Abdeckung wieder runter und wird die letzte Politur auf das Straßenraster aufgetragen.
Bei dieser Form der Bildhauerei fällt vor der Arbeit am Stein viel Papierkram an, sozusagen.
Ein anderes Beispiel ist „Journey“ (Die Reise), ein Auftrag der St. Mary’s National School in Thomastown. Hier handelt es sich um einen Block von 5 t im Ausgangszustand. Nach 6 Monaten Arbeit hatte ihn die Künstlerin um 2 t reduziert, ihm die angestrebte Eiform gegeben und ihm den Plan der Umgebung der Schule aufgeprägt.
Für Kinder gab es 2 Attraktionen: eine kleine Stahlplatte zeigt ihre Wohnorte und die Startpunkte ihrer Schulwege. Zudem bekam jedes Kind einen Ausschnitt von 10 x 10 cm Größe aus der Vorlage, den es ausmalen durfte. Diese Einzelstücke setzte Michelle Byrne zu einem neuen Gesamtplan zusammen, der heute im Eingangsbereich der Schule hängt.
So penibel, wie sie bei der Übertragung arbeitet, scheint sie eine Leidenschaft für die exakten Fakten aus der Vergangenheit zu haben. „Es zieht mich immer wieder in die Recherche zur Geschichte oder der Natur von damals“, bestätigt sie auf ihrer Webpage unsere Vermutung. „Was mich interessiert sind die Muster und Zeichen, die wir in der Landschaft hinterlassen haben, und was sie uns erzählen können.“
Seit ihrem Diplom am GMIT College of Art and Design in Galway arbeitet die gebürtige Dublinerin als Künstlerin. Anfangs verwendete sie auch Metall, Gips oder gefundene Objekte. Seit einiger Zeit liegt ihr Schwerpunkt auf dem Blue Kilkenny Limestone. „Er gibt mir den dunkelgrauen Kontrast, den ich mag“, sagt sie und meint damit die farblichen Unterschiede als Folge der Bearbeitung.
Aktuell experimentiert sie mit auch Harz-Inlays in Naturstein.
Bei ihrer Arbeit muss sie mit ganz großen Dimensionen umgehen. Um den Derdimus Tower über die ganzen 4 m zur Spitze hin konisch zulaufen zu lassen, musste das komplette Stück auf die Drehbank bei der Firma McKeon Stone. Danach wurde es in 3 Teile zersägt, bekam den Plan auf die Oberfläche und wurde zuletzt am Standort mit einem Kran neu zusammengesetzt.
Überschwänglich lobt sie die Firma und ihren Chef, Niall Kavanagh, der in der Werkstatt in Stradbally beinahe in kleines Carrara für seinen Blue Limestone aufgezogen hat: „Niall und McKeon waren von unschätzbarem Wert bei all den großen Skulpturen, indem sie mir wie so vielen anderen Bildhauern erlaubten, auf dem Hof zu arbeiten und dabei sowohl ihr Fachwissen als auch ihren Rat in Anspruch zu nehmen.“ Auch konnte sie die Werkzeuge und Gerätschaften der Firma benutzen, lobt sie weiter: „Ohne McKeon wäre meine Arbeit nicht möglich, sie sind wirklich Meister der Kunst.“
Fotos: Michelle Byrne
(09.02.2022)