Teile des Steins bleiben markant unbearbeitet, der Rest trägt eine klassische Form
Gute Kunst tritt in einen Dialog mit dem Betrachter, schreiben die Kritiker. Dass das stimmt, kann man bei den Arbeiten des italienischen Bildhauers Massimiliano Pelletti selber erfahren: mit dem 1. Blick hat man seine Arbeiten aus Stein erfasst, aber spätestens auf den 2. sieht man die Ungereimtheiten, die es gibt – Brüche oder Fehlstellen im Stein, Adern oder Risse in der Oberfläche. Damit öffnet sich plötzlich und von selbst eine neue Bühne für das Kunstwerk und in diesem Fall tritt das Material gewissermaßen ganz vorne an den Orchestergraben und lässt dort seine ganz eigene Melodie erklingen.
Pelletti stammt aus Pietrasanta, dem Bildhauerort unweit von Carrara. Er hat von Kindesbeinen an mit den Steinen zusammengelebt, die dort gewonnen oder weiterverarbeitet werden, und insofern kann er zu jedem Brocken, der ihm irgendwo über den Weg kommt, eine Idee entwickeln.
Besonderheit seiner Arbeitsweise ist, dass er Teile des Steins unbearbeitet lässt. Meist sind es jene Zonen, die eigentlich als Mängel gelten und wegen derer der Brocken normalerweise aussortiert würde.
Um diese Fehlstellen herum arrangiert er aber eine klassische Skulptur, die jeder kennt.
Dass er sich für diese Art der Bildhauerei entschieden hat, erscheint zwangsläufig, wenn man seinen Lebensweg und seine Leidenschaften kennt.
„Die Kunst habe ich habe im Studio meines Großvaters entdeckt“, erzählt er von seiner Kindheit und dem täglichen Weg aus der elterlichen Wohnung im 1. Stock in die Familienwerkstatt im Erdgeschoss. „Ich fand ihn dort, wie er Marmor bearbeitete, immer nahe an einem Fenster.“
Es gehe um das Licht, das eine Skulptur und die Oberfläche zum Leben erwecke, verriet der alte Herr ihm eines der Geheimnisse der Bildhauerkunst.
Nun könnte man vermuten, dass Pellettis Weg in die Kunst geradlinig vorgezeichnet war. Aber im Gegenteil.
Denn der alte Herr brachte ihm zwar das Handwerk bei („Er konnte auch gar nicht anders: permanent war ich bei ihm im Studio“, schreibt Pelletti), wollte ihn aber eigentlich nicht in dem Beruf sehen: Die Arbeit am Stein wäre „zu mühselig und zu ermüdend,“ so die Warnung.
Pelletti entschied er sich dennoch für ein Kunstgymnasium. Danach wendete er sich an die Universität und studierte… Philosophie!
Sein Wunsch war, „geistige Offenheit zu erreichen, daran zu wachsen und meine künstlerische Sprache zu finden,“ wie er schreibt.
Zu seinem heutigen Stil trug auch seine „Leidenschaft für die Geologie“ bei: „Sie ließ mich nach Sorten mit Besonderheiten zu suchen, so dass in meinen Arbeiten die Entstehung der Steine weiterlebt.“
Bei seinen Kreationen spiegelt sich im Hintergrund der Arbeiten auch immer die Werkstatt des Großvaters wider. Von dem hatte er nämlich eine Abgusssammlung von klassischen Skulpturen bekommen, und diese Formen überträgt er ebenfalls auf die Steine, die er ausgesucht hat.
Gewissermaßen „interpretiere ich eine Erbschaft neu, die ich seit meiner Geburt besitze“, formuliert er. Manchmal lässt er sich dabei auch von anderen Kulturen beeinflussen, etwa der „afrikanischen Kunst, die eine andere meiner Leidenschaften ist“.
Im Oktober 2023 wird die Kunstmesse Frieze Art Week London 20 neue Arbeiten von ihm ausstellen, die er im Moment fertigt. Parallel erstellt er eine Kreuzigungsszene für den Neubau einer Kirche. In der Ortschaft Forte dei Marmi unweit von Carrara ist eine öffentliche Skulptur von ihm zu sehen.
(23.12.2022)