Der Senior der Firma Grassi Pietre srl hat einen Bericht über sein Leben und das der Vorfahren geschrieben
Einen Insiderblick in die Entwicklung der Steinbranche seit etwa 100 Jahren und auch über das Leben damals im europäischen Hinterland bietet das Buch „Memorie di Pietro Grassi“. In dem Lebensbericht des heutigen Seniors des Unternehmens Grassi Pietre s.r.l. mit Sitz in Nanto auf halbem Weg zwischen Verona und Venedig ist die Firmengeschichte über 5 Generationen und auch die Alltagsgeschichte mit vielen Details beschrieben.
Die Vorgeschichte spielt , mit heutigen Augen gesehen, in einer anderen Welt: das Unternehmen geht auf das Jahr 1871 zurück, als in den Archiven ein Domenico Grassi als Pächter eines Steinbruchs für den Kalkstein Pietra di Nanto erwähnt wird.
Zu dessen Sohn Pietro Senior (dem Großvater des Autors der „Memorie“), werden die Informationen ausführlicher: Er arbeitete in seinem Natursteinbetrieb sowohl beim Abbau der Steine (als Steinhauer), als auch in der Verarbeitung (als Steinmetz). Hergestellt wurden Dinge „für das tägliche Bauen“.
Für spätere Jahre wird umrissen, was damit gemeint war: „standardisierte Elemente, zum Beispiel massive Treppenstufen oder Tür- und Fenstereinfassungen“. Auch Platten für Fußböden gehörten zum Produktprogramm.
Besonders zu erwähnen ist die große Nachfrage aus Bäckereien: die gab es, weil der Nanto-Stein sich sehr gut zum Ausmauern der Öfen eignete.
Die Familien waren damals groß und ihr Alltag spielte sich unter ständiger Bedrohung durch Schicksalsschläge ab: Pietro Grassi senior starb früh und hinterließ Ehefrau Virginia mit 6 kleinen Kindern.
Diese Virginia muss wohl ziemlich unerschrocken gewesen sein: einige ihrer Kinder in die Obhut von Verwandten zu geben, lehnte sie rundweg ab. Statt führte sie zusammen mit einem Mitarbeiter die Steingewinnung weiter, was hieß, dass auch die Kinder so früh wie möglich zum Lebensunterhalt beitragen mussten.
Vittorio, einer der 6 und später Vater des Memoirenschreibers, brach deshalb die Grundschule ab und arbeitete von montags bis samstags im Steinbruch.
Aber im Alter von 15 Jahren nutzte er den Sonntag nach dem obligatorischen Kirchgang für den Besuch der Kunstgewerbeschule in der Stadt Vicenza. Das hieß: 16 km mit dem Fahrrad hin und 16 km zurück. Im Winter kann es in diesem Teil Italiens unweit der Alpen kalt und richtig ungemütlich werden.
Der Besuch dieser Schule für Design, wie wir sie heute bezeichnen würden, wird später noch eine Rolle spielen.
Nachfahre Pietro Grassi (junior) schildert in den „Memorie“ die damalige Gewinnung der Rohblöcke. Sie war seit den Zeiten der Römer praktisch unverändert geblieben: man arbeitete sich von oben in die Tiefe, indem man schmale Gräben neben den Blocks heraushämmerte, und danach den Brocken unten und hinten löste.
Pietro Grassi nennt Zahlen: „Ein erfahrener Arbeiter benötigte durchschnittlich 2 Wochen, um einen Block aus dem Fels zu lösen.“ Wohlgemerkt: der Nanto-Stein ist ein Kalkstein, kein Granit. Und als Rohmaterial sind manche seiner Sorten sogar regelrecht weich: sie lassen sich leicht bearbeiten und härten erst nach einer Weile aus.
Wohl auch deshalb wurde der Nato-Stein schon zu Zeiten der Römer gewonnen.
Abgebaut wurde im Winter, verarbeitet im Sommer, schreibt Pietro Grassi für die Zeit seiner Eltern. Wobei die Bedingungen sich mit den Jahreszeiten kaum änderten: anstelle von Fabrikhallen gab es allenfalls Unterstände, durch die im Winter der Wind pfiff und über denen im Sommer die Hitze brütete.
Bei der unterirdischen Gewinnung, die die Firma damals schon betrieb, hatte man es wenigstens mit konstanten Temperaturen zu tun.
Wie er an der Erwachsenenwelt teilnahm, beschreibt Pietro Grassi mit den Augen des Kindes: Mittags brachte er in einem Weidenkorb das Essen in den Steinbruch („ein kleiner Topf mit Suppe, ein halber Liter Wein mit Brot oder Polenta“). Sein Vater teilte das dann mit dem alten Palaro, mit dem der Kleine wohl eine Art von Bündnis hatte: er war noch zu klein, um schwere Arbeiten zu erledigen, der Alte zeigte schon körperliche Schwächen, und so umschifften sie wohl gemeinsam und spielerisch die Härten des Steinmetzalltags.
Ausführlich beschreibt Pietro Grassi ein Mittagessen an einer Art Lagerfeuer vor dem unterirdischen Steinbruch, vermutlich im November, nachdem das Vieh geschlachtet und für kurze Zeit Fleisch reichlich vorhanden war: „Dann nahm der Vater einen Ast, steckte ein Stück Schweinefleisch an ein Ende und hielt es ein paar Minuten lang in die Flamme, bis es ausreichend gegart war. Mein Bruder und ich machten es ihm nach und aßen an diesem Tag Schweinefleisch, das so lecker war, dass wir unseren Vater fragten, wann wir das wiederholen könnten.“
Solche Szenen waren aber wohl eher selten im Kinderleben von Pietro: mit 2 oder 3 Jahren bekam er Typhus und mit 5 oder 6 eine Lungenentzündung.
Pragmatisch lösten die Eltern die Empfehlung des Arztes zu einer Luftveränderung: Pietro zog mit dem Vater auf eine Baustelle der Firma im Kurort Recoaro. Dort war das Kind tagsüber wohl fürchterlich allein; immerhin gab es das Mädchen Lina, Tochter aus dem Gasthof, mit der er abends Glühwürmchen-Fangen spielte.
Dass aber sein Ball beim Spielen in einen Bach geriet und wegschwamm, scheint ihn noch beim Verfassen der Memoiren traurig zu stimmen: „Einen Gummiball bekam man nicht jeden Tag.“
Nach dem 1. Weltkrieg gründeten die 6 Geschwister der Elterngeneration die Firma Fratelli Grassi (Gebrüder Grassi): der älteste Bruder Luciano war Patriarch, heute würde man seine Aufgabenbereiche als Management, Marketing und Networking bezeichnen; Vittorio, der Vater des Memoirenschreibers, war quasi technischer Direktor, also zuständig für Steingewinnung und Verarbeitung; Achille hatte laut Memoiren „eine Begabung für das Schreiben“ und war folglich für die Buchhaltung zuständig; über Silvios Begabungen sagt der Bericht nichts, ihm war die Auslieferung mit Pferdegespannen übertragen.
Für den Transport gab es „spezielle Wagen mit robusten Rädern und breiten Felgen“, heißt es in den Memoiren.
Die beiden Mädchen Maria und Anchilla halfen bei den Steinmetzarbeiten oder beim Zuschneiden von Holz für den Versand. Das war für sie wahrscheinlich gar nicht so schlecht, denn normalerweise wurden Mädchen aus armen Familien als Haushaltshilfen in die Stadt geschickt.
Vittorio als technischer Direktor war auch für die Qualitätskontrolle zuständig: gab es auf einer Baustelle Probleme, musste er hin und die Nachbesserungen selber vornehmen oder veranlassen, schreibt Sohn Pietro in den Memoiren. Denn Patriarch Luciano legte größten Wert auf Kundenzufriedenheit und impfte sie auch den Geschwistern ein, wie an mehreren Stellen der Memoiren zu lesen ist.
Eine Unterbrechung des Firmenwachstums brachte der 2. Weltkrieg, als die Wirtschaft zusammenbrach und die Männer zum Militär eingezogen wurden.
Und wieder gab es einen Schicksalsschlag: Patriarch Luciano starb nach Krankheit.
Vittorio als jüngerer Bruder führte das Unternehmen weiter, und er wusste den Wiederaufbau des Landes zu nutzen. Zum Beispiel stellte er das Material aus den Steinbrüchen der Familie kostenlos für den Glockenturm in Nanto zur Verfügung. Zu den großen Projekten damals zählte auch der Wiederaufbau der Kathedrale von Vicenza.
Allerdings: die Welt war nach dem 2. Weltkrieg war nicht wie zuvor. „Es gab neue Anforderungen sowohl an die Art der Arbeiten als auch an die Lieferfristen“, heißt es in den Memoiren.
Die Zielvorgabe der neuen Welt hieß: schneller und dabei auch noch exakter.
Mechanisierung wurde zum großen Thema. Gleichzeitig redete man von neuen Dingen wie Unternehmensführung, und im zuvor verschlafenen Hinterland tauchten Vertreter von US-Beratungsgesellschaften auf, die neue Business-Ideen predigten.
Vittorio war wohl jemand, der sich alles offen anhörte, es dann aber lieber selber versuchte. So kann man die Schilderungen interpretieren.
Jedenfalls beauftragte er einen Unternehmer aus der Umgebung, eine neue Art von Steinsäge zu entwickeln – Gatter würden wir heute sagen. Pietro der Sohn und Memoirenschreiber, steckte damals noch im Ingenieursstudium, nahm aber mit Feuer und Flamme an der Sache teil. „Die Säge kam Ende der 1940er Jahre in die Werkstatt und steigerte die Leistung der Leute, die bis dahin nur mit Handsägen gearbeitet hatten, um das Zehnfache“, schreibt er im Rückblick.
In den folgenden Jahren wurden auch neue Maschinen für den Steinbruch und neue Arten von Fräsen eingeführt. „Wir hatten das Gefühl, dass wir unserer Zeit fast voraus waren!“, schreibt er.
Dann gab es wieder einen Schicksalsschlag: Unternehmenschef Vittorio starb.
Für Sohn Pietro, fortan selber die Hauptfigur im Lebensbericht, gab es keine Wahl, denn ein Großauftrag aus Vicenza war zu Ende zu bringen. Die Baustelle war damals die bedeutendste in der Umgebung, und der Bauleiter tauchte besorgt im Werk in Nanto auf und fragte die beiden Mittzwanziger Pietro und seinen Bruder Gino: „Was machen wir jetzt?“
Pietro gab das Studium auf und kümmerte sich zusammen mit Gino um die Auslieferung. „Obwohl wir sehr jung waren, gelang es uns, das Vertrauen des Bauleiters zu erfüllen“, erinnert er sich lapidar, „wir haben der Baufirma keine Liefer- oder Ausführungsprobleme bereitet.“
Dabei hatte der enorme Zeitdruck vermutlich auch positive Auswirkungen: die bisherige Herstellung bestimmter Teile sah Pietro auf einmal als ungeschickt an, und so entwickelte er – ganz im Stil seines Vaters – ein Verfahren zur beschleunigten Fertigung.
Später wurden die Rollen in der Unternehmensführung geteilt: Bruder Gino konzentrierte sich auf die Rolle des Akquisiteurs.
In den 1960ern folgten weitere Großaufträge und das Unternehmen investierte kontinuierlich in neue Maschinen und in neues Personal.
Pietro Grassi selbst war zwischen an die Universität zurückgekehrt, hatte seinen Abschluss nachgeholt und zusätzlich Management-Kurse absolviert.
Er kommentiert die Zeit mit den Worten: „In diesem Jahrzehnt vollzog sich der Übergang von einer rein handwerklichen zu einer wirklich industriellen Tätigkeit.“
Dazu gehörte auch die Teilnahme an Messen. Eine, die es damals schon gab, war jene in Sant’Ambrogio di Valpolicella, einem Städtchen auf der Höhe des Gardasees nördlich von Verona. Die Firma Grassi war mit Aufträgen schon in der Gegend angekommen, und in den 1970ern nahm sie auch in Messen in Bologna, Mailand und Carrara teil.
Als die Messegesellschaft aus Verona dann die eher familiär geprägte Schau in Sant’Ambrogio übernahm und die Marmomacc (damals noch mit -cc) erfand, war auch Pietro Grassi dabei.
Kennzeichen seiner Präsentationen war aber Bodenständigkeit, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Unternehmen in Italiens Steinbranche, die ihre Bedeutung gerne mit spektakulären Ständen inszenierten.
Wenn auch zusagen leise im Auftreten, war Pietro Grassi von Anfang an bei wegweisenden Aktionen dabei, etwa Marmomacc Meets Design.
Sein früher Blick auf die Verwendung von Stein außerhalb des Bauwesens mag zurückgehen auf den sonntäglichen Besuch seines Vaters in der Kunstgewerbeschule.
Jedenfalls kooperierte das Unternehmen mit Bildhauern und ließ sie moderne Möbel aus Stein entwerfen. Damit kehrte die Firma in der Zeit der maschinellen Fertigung auch wieder zur handwerklichen Arbeit zurück.
Die Objekte stießen auf Einrichtungsmessen auf eine große Nachfrage, so dass das Unternehmen sich genötigt sah, eine Schule für Bildhauerei ins Leben zu rufen. Sie wurde durch ein Bildhauersymposium alle 2 Jahre in Nanto ergänzt.
Von den 1980ern an ging die Firma auch ins Ausland, und nicht nur nach in Europa, sondern auch in die USA. Spektakuläre Projekte realisierte sie unter anderem in Hollywood.
Inzwischen trägt das Unternehmen den Namen Grassi Pietre srl. Die Kinder Mariavittoria und Francesco teilen sich die Leitung. Die Tochter Chiara mit einer mongoloiden Behinderung ist in das Unternehmen integriert und hat ihre Rollen.
Im Januar 2023 verstarb Pietro Grassi im Alter von 92 Jahren.
Video, in dem auch Pietro Grassi zu sehen ist:
(08.05.2023)