Die 350 Einzelelemente lassen sich in Naturstein kostengünstiger als in anderen Materialien produzieren und an die Wand bringen
„Gewellte Steinfassade” ist ein neuer Begriff in der Natursteinarchitektur, den man sich merken sollte. Geprägt hat ihn Raffaello Galiotto, Industriedesigner und Vordenker in Sachen Stein, auf italienisch „Rivestimento lapideo ondulato“. Man findet das erste Beispiel für solch eine Art von hinterlüfteter Fassade am neuen Logistikzentrum der Firma Margraf in Gambellara unweit von Verona. „Ripple“ ist der Name der Wand. Das Bauwerk ist das Pendant zu dem monumentalen Bogen namens „Arcolitico“ auf der anderen Seite der Anlage, den ebenfalls Raffaello Galiotto entworfen hat und den wir kürzlich beschrieben hatten.
Bei unserem Mail-Austausch mit Galiotto hatten wir anstelle seines Namens Ripple für das Projekt den Titel „Vorhang“ gewählt. Aber das hat ihm nicht recht gefallen: was er hier gemacht habe, sei etwas prinzipiell anderes, als man es von früher kennt, wenn zum Beispiel Maler oder Bildhauer Vorhänge nachgebildet hätten, schrieb er. Weil: bei jenen Vorbildern waren die Falten immer von den Materialeigenschaften des Stoffes und seiner Aufhängung bestimmt – Ripple hingegen ist völlig frei ausgedacht.
In Wirklichkeit aber lässt sich auch Galiotto vom Material leiten. Denn eines der Ziele seines Designs ist, möglichst wenig Abfall zu produzieren. Schon beinahe wie ein Prediger verlangt er immer wieder, dass die Steinbranche und die Architekten respektvoll mit dem Millionen Jahre alten Material umzugehen.
Galiottos Gewellte Steinfassade überdeckt insgesamt eine Fläche von 600 m², ist 20 m lang und gut 10 m hoch. Sie setzt sich zusammen aus 350 Marmor-Elementen, die ihrerseits 35 senkrechte Reihen bilden. Jede dieser Reihen besteht aus 10 übereinander gestapelten Elementen.
Irgendwie ahnt man bei der Betrachtung der Fotos, dass es Regelmäßigkeiten in den Falten gibt, und es gibt sie tatsächlich: jede der senkrechten Reihen ist aus einem einzigen Rohblock geschnitten – klar, jetzt erkennt man die einheitliche Maserung und Farbe pro Reihe.
Außerdem ist jedes Element trapezförmig und hat zudem noch eben die Welle an der Oberfläche.
Daraus ergeben sich die Falten, die schräg stehen, wie man es von einem textilen Vorhang kennt.
Jedes einzelne Element hat seine ganz spezielle Form, wobei die Gesamtheit der
Bausteine „in perfekter Kontinuität ist“, wie es Galiotto formuliert. „Die Form der Falten ist ein Kompromiss zwischen dem Wunsch nach dem maximalen ästhetischen Effekt, den Grenzen der Seilsäge und schließlich den Vorgaben einer Installation als Wand.“
Natürlich gibt es in der lang gezogenen Wand auch eine Tür – schließlich ist Galiotto Produktdesigner, legt also Wert darauf, dass seine Entwürfe auch in der Realität genutzt werden können. Weil nun die Falten schräg stehen, muss auch die Tür in der Mitte der Wand schräg sein – aus der Distanz könnte man meinen, sie sei der Zugang zu einer Wohnung der Hobbits oder der Erdgeister.
Zwischen 70 und 35 cm sind die Marmorelemente dick.
Daneben gibt es noch 300 einfache Marmorfliesen für die Innenverkleidung. Denn die Gewellte Fassade ist gewissermaßen wie ein Windschutz vor die Wand des Logistikzentrums gestellt. Ihr Aufbau besteht – von außen nach innen – aus den übereinander gestapelten Marmorelementen (die übrigens selbsttragend sind), dann folgt ein Stahlgerüst, an dem die Elemente zur Sicherheit noch einmal befestigt sind, dann eine Betonwand für das Stahlgerüst, und auf deren Innenseite schließlich die Verkleidung mit den rechteckigen und flachen Fliesen.
Bei dem Marmor handelt es sich um die Sorte Fior di Pesco Carnico, die Margraf im eigenen Steinbruch exklusiv gewinnt. Die Farbe ist ein Grau, das durch das Zuschneiden mit dem Diamantseil einen aufgehellten Farbton hat. Auch die Fliesen auf der Rückseite sind aus diesem Material, erscheinen jedoch auf den Fotos dunkler.
Genauere Angaben über den Verbrauch an Material lagen zum Zeitpunkt unserer Recherche noch nicht vor, weil es wegen Corona Verzögerungen gab.
An der Gewellten Steinfassade kommt einmal mehr eine große Stärke des Natursteins zur Geltung: wenn es in einer Fassade viele unterschiedliche Elemente gibt, wird das Schneiden des einzelnen Elemente mit der Seilsäge viel kostengünstiger als ihre Herstellung zum Beispiel aus Kunststein oder Beton. Denn beim Stein wird das 3D-Modell aus dem Computer in einem Schritt auf das reale Material übertragen; einen Kunststein hingegen müsste man erst gießen und dann Zurechtschneiden, beziehungsweise man müsste für jedes einzelne Element eine neue Gussform herstellen.
Schließlich, wir wollen noch ein wenig über die Zukunft der Gewellten Steinfassaden spekulieren: Ist die Wand dafür geeignet, dass man sie auseinanderbauen, an andere Stelle transportieren und dort neu aufbauen würde?
Galiotto gefiel die Frage und er sie dachte gleich weiter: „Wir übersehen viel zu oft, dass Marmor als Material mehr Beachtung verdient als bloß für zufällige Moden oder Bedürfnisse.“
Will heißen: ein Architekt oder Designer, der den uralten Naturstein verwendet, sollte sich der Banalität entgegenstemmen und Ausdrucksformen suchen, die Zeitlosigkeit zumindest anstreben.
Raffaello Galiotto Industrial Design
Fotos: Raffaello Galiotto / Margraf
(26.06.2020)