Die Deutschen sind in der Architektur im Moment auf der Suche nach ihrer Geschichte und ihrer Identifikation
Was ist los mit den Deutschen? Seit einigen Jahren haben sie ein Faible für die Rekonstruktion von Teilen der alten Innenstädte, die im 2. Weltkrieg zerstört wurden. Jüngste Beispiele sind der Neubau des Berliner Stadtschlosses, bei dem im Sommer die Gerüste fallen, und die so genannte „Neue Altstadt“ in Frankfurt/Main, die seit Mitte Mai der Öffentlichkeit zugänglich ist und die im September 2018 mit einem großen Fest offiziell eingeweiht werden soll. Ihr offizieller Projektname ist DomRömer.
Mit ihr ist in der Bankenstadt ein reizvoller Kontrast zu den Glaspalästen der Finanzwelt entstanden. Die Fläche der Altstadt beträgt nur 7000 Quadratmeter – das ist knapp ein Fußballfeld. Hier stehen nun auf 35 Parzellen ebenso viele Gebäude, 15 davon Rekonstruktionen der historischen Vorbilder und 20 Neubauten.
Für alle gilt eine strenge Gestaltungssatzung, die sich an den Städten des Mittelalters orientiert: verwinkelt, kleinteilig und mit extrem steilen Dächern.
Von größter Bedeutung ist diese Rekonstruktion für die Natursteinbranche nicht nur deshalb, weil die meisten der Gebäude im Erdgeschoss den heimischen roten Mainsandstein tragen und dieser und anderer Naturstein in vielen Details Verwendung gefunden hat.
Wichtiger ist, dass der Stein hier wirklich sichtbar wird – anders als etwa an den Fassaden von Hochhäusern, wo er wie eine Außentapete nur seinen Teil zum Gesamteindruck beiträgt.
Außerdem zeigt sich an vielen der Gebäude die hohe Kunst des Handwerks, ganz besonders in den Holzarbeiten, aber auch beim Stein.
Schließlich haben einige der Architekten ganz innovative Fassadenideen mit Schiefer entwickelt.
Das beste Beispiel dafür sind die Häuser mit der Adresse Markt 10 und Markt 14. An beiden haben die Architekten die Typologie des Mittelalters übernommen und modern weiterentwickelt: was ehemals windschief war, ist nun wellenförmig an der einen Fassade (Markt 10) und winklig an der anderen (Markt 14).
So etwas hat man noch nicht gesehen, und wir wollten uns gar nicht satt sehen daran.
Dabei sieht der Passant zum Beispiel beim Haus Markt 10 das Beste gar nicht: es hat, wie ehemals bei Frankfurter Häusern üblich, ein kleines Belvedere. Das ist ein Dachgärtchen – beim Neubau ist dieses als Einschnitt in das steile Dach realisiert worden. Architekt war das Büro Von Ey Architektur.
Das Haus Markt 14, ehemals „Neues Paradies“ genannt, trägt ebenfalls eine außergewöhnliche Schieferfassade. Architekt waren Johannes Gütz + Guido Lohmann.
Die Schieferarbeiten an insgesamt 11 Dächern und 4 Fassaden führte die Firma Hees + Knoll Dachtechnik aus. Die übrigen Arbeiten am Naturstein haben verschiedene Unternehmen übernommen.
Ausdrückliches Ziel der Stadtplaner war, nicht ein Museumsdorf oder ein Disneyland hinzustellen, sondern ein Viertel für modernes Stadtleben. So gibt es 80 Eigentumswohnungen, in die einmal um die 200 Personen einziehen sollen. Die Fläche der Wohnungen liegt zwischen 32 und 185 Quadratmetern.
In den Erdgeschossen gibt es Läden für den täglichen Bedarf, auch für Kunsthandwerk sowie Gaststätten.
Zentrum ist der Hühnermarkt mit einem Brunnen als Erinnerung an den Heimatdichter Friedrich Stoltze. Seine Büste erinnert ein wenig an Karl Marx.
Eine weitere Besonderheit der Rekonstruktion ist die Wiederherstellung des so genannten Krönungsweges. Von 1652 an wurden nämlich in Frankfurt die deutschen Kaiser und Könige gekrönt, und nach der Zeremonie im nahe gelegenen Dom schritten die Offiziellen zu Fuß zum Römer, wo das Festmahl stattfand.
Die Ostseite dieses Ensembles mit dem historischen Rathaus war bereits 1980 rekonstruiert worden.
Interessant ist, wie ein spezielles Problem des Krönungswegs gelöst wurde: man musste nämlich Teile des Geländes abtragen, um seinen historischen Verlauf wiederherzustellen; dadurch entstanden zwei unterschiedlich hohe Straßenniveaus.
Mit einer lang gezogenen Pergola aus Sandstein wurde dieses Dilemma optisch gelöst.
Besondere Natursteinarbeiten waren unter anderem die Sandsteintreppe im Haus Goldene Waage oder der Brunnen aus Carrara-Marmor in ihrem Innenhof.
Wir zeigen weitere Beispiele mit Fotos.
Zurück zum Anfang. Wieso aber haben’s die Deutschen so mit der Rekonstruktion, was sich auch schon beim Neubau der Frauenkirche in Dresden, dem Schloss in Braunschweig oder dem Markt in Hildesheim zeigte?
Architekturprofessor Christoph Mäckler, Vorsitzender des Gestaltungsbeirats für das DomRömer-Projekt, gibt eine interessante Interpretation. Er vermutet, dass der aktuelle Trend mit der modernen Welt und der Globalisierung zu habe: „Die Gesellschaft braucht Wurzeln (und) Anker, um sich definieren zu können“, sagte er in einem Interview mit der DomRömer Zeitung (Mai 2018). Die Menschen wollten eine Architektur, die ihnen Heimat und Identifikation vermittele.
„Weiterbauen“ ist für ihn das Stichwort: es gehe darum, aus der Architektur vergangener Jahrhunderte aktuelle Formen zu entwickeln, die den Wünschen der Menschen nachkämen. Dies zumindest so lange, bis der heutige „Städtebau mit seinen Architekturen dem Bedürfnis nach Schönheit und Geborgenheit wieder entspricht“.
Einige der jungen Architekten in der neuen Altstadt hätten diese Gratwanderung geschafft. Generell lässt Mäckler anklingen, dass er sich weniger Rekonstruktion (offiziell: „schöpferische Nachbauten“) und mehr Neubauten gewünscht hätte.
Auch das ist ein hoffnungsvoller Aspekt für die Natursteinbranche: denn ihr Material kann das Gefühl von Heimat vermitteln.
Vielleicht aber steckt hinter der Begeisterung der Deutschen für die Rekonstruktionen auch der Wunsch der 2. Nachkriegsgeneration, etwas von der Architektur wieder hervorzuholen, die die Bombennächte zerstörten. Darauf deutet die Bemerkung einer Passantin am Eröffnungstag hin: „Es ist hier wie in Italien – wo man hinguckt ist es schön.“
Jedenfalls: In Lübeck steht mit dem „Gründungsviertel“, gelegen im Unesco-Kulturerbe der Altstadt, schon die nächste Rekonstruktion an.
Fotos: DomRömer GmbH / Peter Becker
(22.05.2018)